Meinung

Alexander Dugin oder wenn ein Idealist Repression verordnet

Der russische Philosoph Alexander Dugin hat in einem Artikel mit einem spektakulären Titel, den auch RT DE veröffentlichte, Zensur und Repressionen gefordert. Hat er das tatsächlich? Kommt auf den Standpunkt an, es gibt große Menschenmassen, für die er das Gegenteil forderte. Das Problem an Dugin und seinem Artikel ist ein anderes.
Alexander Dugin oder wenn ein Idealist Repression verordnetQuelle: Sputnik © Grigori Sysojew / RIA Nowosti

Von Alexej Danckwardt

Auf den programmatischen Artikel von Alexander Dugin mit dem genauso aufsehenerregenden wie den Kern des Artikels verfehlenden Titel "Russland braucht Zensur und Repression" hat bereits Gert Ewen Unger geantwortet. Es empfiehlt sich also Dugins Ausgangsartikel genauso zu lesen, wie die schon veröffentlichte Kritik daran. Warum dann also noch Artikel zu einem Thema, das Deutschland nicht unmittelbar betrifft? Auch wenn der Verriss der Perversion, zu der Liberalismus inzwischen verkommen ist, einer gefühlten Mehrheit zwischen Oder und Rhein und zwischen Nordsee und den südlichen Alpenausläufern gefallen wird.

Nun, leider verrennt sich Gert Ewen Unger in einer Debatte darüber, was Liberalismus ist und in einer Verteidigung der Freiheiten, die er durch die Vorschläge des russischen Philosophen angegriffen sieht. Das Problem an Dugin und seiner Ideenwelt ist jedoch ein gänzlich anderes: er ist ein Idealist. Ein Idealist im philosophischen Sinne, also der Gegenpart von jemandem, der sich Materialist nennt. "Das Bewusstsein bestimmt das Sein" versus "das Sein bestimmt das Bewusstsein".

Bevor wir dazu kommen, in welche Sackgassen der Idealismus als Grundlage des Denkens hier in dem ganz konkreten Fall einer Zensur- und Repressionsdebatte den großen Denker geführt hat, klären wir erstmal, worauf Dugin wirklich hinaus will und warum der Titel des Artikels seinen Inhalt verzerrt. 

Russland braucht Zensur und Repression? Dugin sagt "ja", ohne auf das "warum" einzugehen, Ewen Unger lässt sich davon herausfordern und sagt, wenn auch nicht kategorisch, "nein". Mitten in Dugins Text steht jedoch klipp und klar, dass es Zensur und Repression in Russland bereits gibt, wie auch überall sonst auf unserem bedauernswerten Planeten. Die Frage ist nur, gegen wen oder was sie sich richten. 

Im "liberalen" Westen, schreibt Dugin, richten sie sich gegen Linke ("Stalinisten") und Rechte ("Nazis"). Also gegen jeden, der die liberalen Metamorphosen zu Transhumanismus, LGBT-Totalitarismus, Identitätsverlust auf allen Ebenen und sonstige Erscheinungen der Postmoderne nicht mitgeht. Hat Dugin mit dieser Zustandsbeschreibung Recht? Er hat mit ihr uneingeschränkt Recht. 

Und in Russland? Gegen Linke und Rechte. Schreibt Dugin nur wenige Absätze weiter. Der Unterschied ist lediglich, dass Russland noch lange nicht so weit auf dem Weg zum "liberalen Faschismus" vorangeschritten ist wie Länder des kollektiven Westens. Deshalb wurden hier bislang nur jene zensiert und strafrechtlich verfolgt, die auf der rechten Seite des politischen Spektrums (in einem Vielvölkerstaat ohne jeden Zweifel der Unterdrückung bedürftig) Volksverhetzung betrieben oder dem radikalen, zu Terror bereiten, Islamismus anhingen. Auf der linken Seite des politischen Spektrums diejenigen, die schon praktische Schritte zu dem unternahmen, was sie für eine Revolution halten, was aber tatsächlich aus dem Westen organisiert und bezahlt war. Beispiel für die Ersteren ist der Hetzer gegen Migranten Alexei Nawalny, Beispiel für die Letzteren Sergei Udalzow, der von einem Agenten des Westens Geld für Terrorakte angenommen hatte. Dafür verurteilt, trat er nach verbüßter Strafe der KPRF bei, und ich sehe ihn nun wieder häufig im kommunistischen Fernsehen. Ohne Zensur und Repression. 

Deshalb sprachen wir bislang auch immer davon, dass Russland im Vergleich zum "liberalen" Europa viel freier und unverkrampfter ist. Hier kann man eben tatsächlich anders als in Polen oder dem Baltikum kommunistische Symbole zeigen und die "Internationale" singen. Hier fliegen anders als in Deutschland in Foren die Fetzen und kaum eine Meinung wird wegen sogenannter "political correctness" wegzensiert oder ruft den Staatsanwalt auf den Plan. Auch Versammlungen in der Öffentlichkeit - Kundgebungen und Demonstrationen - abhalten kann man hier, nur werden die illegalen, nicht angemeldeten, konsequenter aufgelöst.

Wie schnell sich das ändern kann, haben wir in den letzten neun Jahren in der Ukraine erlebt, und damit nähern wir uns langsam dem zentralen Punkt dieser Kritik.

Doch halten wir zunächst einmal fest: Dugin fordert nicht die Einführung von Zensur und Repression, im Gegenteil, er hält fest, dass es sie bereits gibt. Nur richten sie sich aus seiner Sicht gegen die Falschen, nämlich wie im Westen gegen Linke und Rechte. Und das möchte der Philosoph geändert wissen, was für die von ihm gemeinten Linken und Rechten ein mehr an Freiheit wäre, nicht ein weniger.

Stattdessen soll der russische Staat die nicht näher definierten "Liberalen" ins Visier nehmen. Die treffende Headline des Artikels wäre daher: "Russland braucht weniger Zensur und Repression gegen Linke und Rechte, dafür endlich mal welche gegen die Liberalen".  

Diese Forderung ist und bleibt jedoch reine Phantasie. Dugin spricht zu einem abstrakten Staat, der über der Gesellschaft und der Wirtschaft schwebt und völlig losgelöst von ihnen Entscheidungen trifft. Ein Modell, das so nur in der Phantasie eines Idealisten existiert und in der Realität nicht existieren kann. Natürlich ist die Realität nicht so geradlinig, wie die marxistische Formel "Der Staat ist ein Instrument der herrschenden Klasse" sie beschreiben will. Sie ist komplexer als das, sonst wäre politischer Kampf gar nicht möglich, auch Revolutionen übrigens nicht. Doch die marxistisch-materialistische Formel ist um Lichtjahre näher an der Realität als Dugins "Der Staat hat eine Idee zur Grundlage", die man wohl nur auszutauschen bräuchte, damit das Paradies der Bruderliebe und christlicher Wohltaten ausbricht.

Umgekehrt wird ein Schuh draus: der Staat bekommt stets die Ideologie der herrschenden Klasse verpasst. Das Kapital hat zwei Ideologien, mit denen es gut zurecht kommt: den Liberalismus und den Faschismus, beide sind verbundene Gefäße und werden von ihm je nach Bedarf im Wechsel eingesetzt. Zum Feind hat die Oligarchie nur eine Ideologie, der Leser kann selbst errechnen welche, wenn es laut Dugin nur drei nennenswerte gibt. 

Russlands Glück, warum es noch nicht wie die Ukraine in eine faschistische Diktatur der Oligarchie abgeglitten ist, die alles Sowjetische abreißt und Kommunisten tötet, besteht darin, dass große Teile der in der Amtszeit von Wladimir Putin neu entstandenen "nationalen" Bourgeoisie ebenso wie das russische Proletariat und das russische Bauerntum ein existenzielles Interesse am Überleben Russlands haben. Und an seiner Befreiung aus der Knechtschaft als Halbkolonie des Westens. Aus unterschiedlichen Gründen zwar, aber sie alle - Unternehmer, Angestellte, Arbeiter, Farmer und Landarbeiter, Berufssoldaten und Staatsbedienstete - wollen, dass Russland lebt. Sie mögen unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft des Landes haben und es gibt unüberbrückbare Widersprüche zwischen ihnen, aber in dieser Phase des nationalen Befreiungskampfes gegen den imperialistischen Westen sind sie Weggefährten. 

Diese breite Koalition kämpft heute nicht nur gegen den äußeren Feind um die Freiheit, und mittlerweile sogar die Existenz Russlands und des russischen Volkes. Ich habe keinen Zweifel, dass der kollektive Westen nicht nur die Zerteilung Russlands (darüber wird offen gesprochen) und den Raub seiner Ressourcen (das ist das Motiv) plant, sondern auch einen Genozid am russischen Volk. Sie, die Koalition fast aller Klassen Russlands, kämpft auch - und dieser Kampf ist sogar der entscheidende - darum, den russischen Staat seinem unter Jelzin langjährigen Besitzer endgültig zu entreißen. 

Zum gemeinsamen Klassenfeind hat diese große Masse der Nation die unter Jelzin aufgestiegenen Oligarchen, die mit ganz wenigen Ausnahmen Kompradoren sind. Anders als in der Ukraine haben die Oligarchen ihren Klassenkampf gegen den Rest des Volkes in Russland bislang nicht gewonnen, aber auch noch lange nicht verloren.

Die überreichen und dadurch mächtigen Kompradoren haben Bedienpersonal in der Presse, in (mittlerweile geschlossenen) Radiosendern, in Universitäten, in der Politik und auf der Bühne. Dieses Bedienpersonal ist es auch, das in Russland das Etikett "Liberale" angehängt bekommen hat und das Dugin im Blick hat, wenn er Zensur und Repressionen fordert.

Es geht dort indes sehr selten um ideologische Überzeugungen. Meistens geht es um schnöden Mammon: Gehälter, Prämien, Stipendien, Schwarzgeld in Briefumschlägen. Wird der Geldhahn zugedreht, haben sich auch die prowestlichen "Liberalen" in Russland in Luft aufgelöst. Der größte Teil jedenfalls, denn "Überzeugungstäter" gibt es auch. Manche kann man überzeugen, dass auch das Streben nach mehr Freiheit und mehr Bürgerrechten im nationalen Rahmen und im Einklang mit den nationalen Interessen erfolgen können und müssen. Diejenigen, die sich nicht überzeugen lassen, werden marginalisiert werden müssen.  

Der Kampf um den russischen Staat, auf den Jelzins Oligarchenkaste bis heute noch viel zu viel Einfluss hat, hat also ökonomischen Charakter. Und die prorussischen Kräfte können ihn nur gewinnen, wenn die Ökonomie - die Basis - nationalen Charakter erhält und sich aus der halbkolonialen Abhängigkeit vom Westen löst. Dann - und erst dann endgültig und vollständig - hat sich auch der Überbau - der Staat - aus ihr gelöst. Damit sind zwar die zahlreichen Gräben und Widersprüche in der Gesellschaft noch lange nicht zugeschüttet und überwunden. Das ist aber im Moment nachrangig, wichtig ist hier und heute, dass Russland (über)lebt.

Es wäre hilfreicher, wenn der Philosoph auf die Suche nach Kräften in der Basis - der Gesellschaft und der Ökonomie - ginge, die im Überlebenskampf nach Innen und nach Außen dem Land den Sieg verschaffen werden, als eine unsinnige und höchst akademische Debatte darüber zu führen, gegen wen sich Zensur und Repressionen richten sollten. Das entscheidet am Ende der Sieger und der Sieger ganz allein. 

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