Meinung

Präventiver Atomschlag? Russland debattiert Vorschlag eines Ex-Kremlberaters

Der Aufruf eines ehemaligen Beraters von Wladimir Putin und Boris Jelzin, Atomwaffen zur Abschreckung der NATO einzusetzen, hat in Russland zu heftigen Debatten geführt. Doch einen Atomkrieg zur Rettung der Welt einzusetzen sei wie der Einsatz einer Guillotine gegen Kopfschmerzen, sagte dazu eine russische Expertin.
Präventiver Atomschlag? Russland debattiert Vorschlag eines Ex-KremlberatersQuelle: Gettyimages.ru

Der Artikel von Professor Sergei Karaganow "Eine harte, aber notwendige Entscheidung", in dem er die These aufstellt, dass Russland durch den Einsatz seiner Atomwaffen die Menschheit vor einer globalen Katastrophe retten könne, hat in Russland zahlreiche heftige Reaktionen hervorgerufen. Manche sahen darin lediglich die Privatmeinung eines Politikwissenschaftlers. Andere wiesen darauf hin, dass Karaganow kein Unbekannter in hohen Ämtern sei: Er stehe unter anderem dem Sicherheitsrat der Russischen Föderation nahe.

RT hat bei einigen russischen Experten Meinungen zu dieser These von Professor Karaganow eingeholt, die im Folgenden zusammengefasst wiedergegeben werden.

Prof. Dr. Alexei Makarkin, Vizepräsident des Zentrums für politische Technologien:

Der Artikel von Karaganow über einen präventiven Atomschlag kommt wenig überraschend. Bereits im vergangenen September schloss er "die Notwendigkeit des Einsatzes von Atomwaffen" nicht aus und sagte voraus, dass die USA die Stadt Boston nicht für Posen opfern würden. Die Signale, die Karaganow damit aussandte, waren klar. Erstens hat er mit seiner These einen Atomschlag von einer bloßen Möglichkeit in ein konkretes kurzfristiges Ziel verwandelt. Und zweitens kommt er zu dem Schluss, dass der Einsatz von Atomwaffen das Ergebnis eines direkten Eingreifens des Allmächtigen sei, der beschlossen habe, die Welt vor neuen Kriegen zu bewahren. Selbst die US-amerikanischen Apologeten des Kalten Krieges haben nie solch ein – auch noch theologisch untermauertes – Argument vorgebracht.

Der Text von Karaganow verdeutlicht die Verzweiflung, in die uns eine festgefahrene Realpolitik führen kann. Vor drei Jahrzehnten träumte eine beträchtliche Zahl westlich orientierter Russen von einer Art neuem Einvernehmen, von dem die Welt regiert wird – natürlich unter Beteiligung Moskaus. Die damalige Modernisierung Russlands ging mit dem archaischen Wunsch einher, "das Russland, das wir verloren haben" wiederherzustellen – nicht das echte russische Zarenreich, sondern eine imaginäre und rekonstruierte Version, eingeschlossen Elemente aus der alten sowjetischen Supermacht. Unter westlich orientierten Russen und antiwestlichen Persönlichkeiten herrschte ein Konsens darüber, dass es dabei keine Anerkennung einer unabhängigen Rolle für die "kleinen Staaten" geben würde, die lediglich als Spielplatz für das große Spiel der Großmächte wahrgenommen wurden.

Als dieses neue Einvernehmen scheiterte, wurde ein "neues Jalta" konzipiert – nicht um mit unseren globalen Partnern zu verhandeln, sondern um unseren Gegnern die Spielregeln aufzuzwingen. Der Text von Karaganow zeugt von der Verzweiflung des Autors darüber, dass dieses Einvernehmen abgelehnt wurde und das Programm des "neuen Jalta" nicht nur gescheitert ist, sondern auch mit herkömmlichen Mitteln nicht umgesetzt werden kann.

Sergei Poletajew, Mitbegründer und Herausgeber des Projekts Vatfor:

Professor Karaganow schlägt vor, dass wir mit dem Zögern aufhören und endlich zuschlagen sollten. Beginnen wir mit Polen und sehen dann, wie es läuft. Danach würde der Westen uns in Ruhe lassen und wir würden fortan glücklich bis ans Ende unserer Tage leben.

Wenn sich das alles so abspielen würde, wäre das großartig. Aber was, wenn nicht? Dann würde unser Handeln sehr schnell zu genau jener Zerstörung der Menschheit führen, die der Professor zu vermeiden versucht. Das ist der erste Punkt.

Der zweite Punkt ist folgender: Unser größter Erfolg seit Beginn der Militäroperation in der Ukraine besteht darin, dass der Großteil der Welt erkannt hat, dass wir im Rahmen unserer Rechte handeln – ob nun offen – wie China – oder nur stillschweigend. Das ist es, was uns die Chance gibt, angesichts der neuen Normalität nicht nur zu leben, sondern uns sogar zu entwickeln und zu gedeihen.

Es besteht keine Notwendigkeit, diese Errungenschaft durch den Beginn eines Atomkrieges aufs Spiel zu setzen, zumal wir in diesem konventionellen Konflikt bisher recht gut abschneiden. Die atomare Option sollte im Falle eines konventionellen Angriffs der NATO auf die Region Kaliningrad oder Weißrussland weiterhin beibehalten werden, und wir sollten nicht zögern, sie in dem Falle auch einzusetzen. 

Allerdings wäre ein öffentlicher Atomwaffentest durchaus sinnvoll. Ausgeführt auf der arktischen Insel Nowaja Semlja, mit TV-Übertragung und Streaming im Internet. Die anderen Atommächte würden wahrscheinlich diesem Beispiel folgen und der Rest der Welt würde sich dann fragen, wer in diesem Konflikt wer ist und wohin das alles führen könnte.

Alexander Dugin, Philosoph:

Ich denke, das ist ein extremer Vorschlag. Wir haben noch lange nicht alle Möglichkeiten eines Sieges ohne Atomwaffen ausgeschöpft. Aber ich verstehe durchaus – wie es unser Präsident bereits gesagt hat –, dass es ohne Russland überhaupt keinen Frieden geben kann. Das muss man ernst nehmen. Aber mit unseren derzeitigen Ressourcen wäre es unverantwortlich, jetzt schon über eine nukleare Apokalypse zu spekulieren.

Leute wie Karaganow sind seltsam: An einem Tag verherrlichen sie die westliche Zivilisation – in seinem Fall tut er das seit Jahrzehnten schon – und am nächsten Tag werden sie zu extremistischen russischen Nationalisten. Sie geben sich beiden Rollen voll und ganz hin und zeigen dabei keine Konsistenz. Wir haben noch nicht alle konventionellen Möglichkeiten ausgeschöpft, um jetzt schon über Atomwaffen zu sprechen, aber wir dürfen auch nicht vergessen, was der Einsatz solcher Waffen bedeuten würde. Jeder sollte verstehen, dass dies der letzte Schritt der Menschheit wäre.

Jelena Panina, ehemalige Abgeordnete der Staatsduma und Direktorin des Instituts für internationale politische und wirtschaftliche Strategien:

Sergei Karaganow schlägt in seinem Artikel vor, dass Russland präventiv Atomwaffen einsetzen solle, um damit die endgültige "rote Linie" zu ziehen und im Westen so viel Angst auszulösen, dass der sich zurückzieht. Allerdings sieht dieser Vorschlag wie ein äußerst seltsamer Schachzug aus, selbst über die provokativen Untertöne hinaus. Ein Atomkrieg als Heilmittel gegen eine globale Katastrophe ist ebenso hilfreich wie eine Guillotine gegen Kopfschmerzen.

Wir sprechen hier von einem Atomkrieg, obwohl der Begriff im Artikel von Karaganow durch die vereinfachte Formel "Einsatz von Atomwaffen" ersetzt wird. Gibt es eine Grenze, wo der "Einsatz von Atomwaffen" noch kein Atomkrieg ist und ab wann er einer ist? Ist es nicht klar, dass der Einsatz von Atomwaffen sofort einen Vergeltungsschlag von viel größerer Stärke auslösen würde?

Atomwaffen sind das letzte Mittel auf dem Schachbrett. Wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft, alle Ressourcen verbraucht sind und eine Niederlage unvermeidlich wird. Und selbst dann können Atomwaffen nicht mehr dafür eingesetzt werden, um den Feind schachmatt zu setzen, sondern nur noch um den Spieltisch umzuwerfen und den ganzen Raum in die Luft zu sprengen. Man lässt den Feind nicht gewinnen, indem man ihn zusammen mit sich selbst und dem Planeten zerstört.

Der Westen erpresst Russland, indem er Pläne für einen Atomschlag entwickelt, auf den wir nicht reagieren können. Das ist eine absolute Erpressung. Solange Chancengleichheit herrscht, wird niemand Atomwaffen gegen uns einsetzen. Wir lassen uns von dieser Logik leiten, deshalb wirken Atomwaffen abschreckend. Sie erfüllen einen Zweck allein durch die Tatsache ihrer Existenz, nicht durch ihren Gebrauch.

Sowohl Polizisten als auch Kriminelle kennen die Regel: Man ziehe nie eine Waffe, es sei denn, man beabsichtig sie auch zu benutzen. Man soll den Gegner nicht mit dem Anblick der Waffe erschrecken, denn er könnte zuerst schießen. Aus diesem Grund wird unreifen Köpfen auch empfohlen, keine Waffen zu tragen, denn sie haben keine Kontrolle über ihre Waffen sondern die Waffen haben die Kontrolle über sie. Es ist gut, dass Herr Karaganow, der zum Einsatz von Atomwaffen rät, um den Westen einzuschüchtern, nicht derjenige ist, der sie zum Einsatz bringen darf. Und diejenigen, die eine eiserne Selbstbeherrschung haben, dürfen nicht auf solche Ratschläge hören.

Man hat den Eindruck, dass Karaganow glaubt, der Westen könne durch einen lokalen und demonstrativen "Einsatz von Atomwaffen" gestoppt werden. Er zeigt jedoch kein Verständnis für die Folgen. Nicht nur die militärische, sondern auch die geopolitische Komponente würde auf dem Spiel stehen. Alle, die heute Russland gegenüber neutral und freundlich gesinnt sind, würden sich abwenden. Dem Westen hingegen würde ein solches russisches Verhalten sehr entgegenkommen. Warum also schlägt der Autor vor, genau das zu tun, was im Interesse des Westens ist?

Russland antwortet auf einen gegen das Land provozierten Krieg mit konventionellen Waffen und muss diesen Krieg mit eben diesen Waffen gewinnen. Unsere Kapazitäten sind keineswegs erschöpft und sind noch nicht einmal wirklich vollständig zum Einsatz gekommen. Die Zahl der russischen Truppen an den Kontaktlinien wurde nicht dramatisch erhöht, was meiner Meinung nach notwendig und möglich sein sollte, und zwar nicht nur durch Mobilisierung. Die fünfte Kolonne in und um die Machtzentren des Landes wurde nicht beseitigt. Können diese Mängel durch den Einsatz von Atomwaffen zur Abschreckung des Westens kompensiert werden? Sieht das nicht nach einem Bluff gepaart mit Wahnsinn aus?

Im Glauben, den Kalten Krieg gewonnen zu haben, arbeitet der Westen systematisch daran, Russland zu zerstören, und das hat nichts mit dem Konflikt der USA mit China zu tun, der zufällig zeitlich zusammenfällt. Hätten die USA einen Krieg mit Russland auf ukrainischem Territorium begonnen, wenn sie China für einen Vasallen gehalten hätten? Sie hätten es. Denn die Wurzeln dieses Krieges reichen bis ins Jahr 1991 zurück, zum Zusammenbruch der UdSSR und der Unterwerfung der russischen Elite unter westliche Konzepte.

Die USA und die NATO pumpen Ausrüstung und Munition nach Europa. Sie verstärken ihr Engagement in der Ukraine. Sie brauchen dringend einen falschen Schritt Russlands, damit man das Land auf der Weltbühne isolieren kann. Und dann kommt, wie ein Ei, das am Ostersonntag geliefert wird, der Artikel von Sergej Karaganow. Zufall oder Teil eines Musters?

Ilja Graschtschenkow, Politikwissenschaftler und Präsident des Zentrums für die Entwicklung Regionalpolitik:

Der Artikel von Karaganow ist interessant, weil er ein Licht auf die Sackgasse wirft, in der wir uns befinden. Ohne darüber nachzudenken, warum dies geschehen ist, schlägt er eine einfache Lösung vor: "Es ist notwendig, den Westen einzuschüchtern, damit er sich zurückzieht und uns aus dem Weg geht. Dazu müssen wir zuschlagen – irgendwo, egal wo."

Aus irgendeinem Grund zieht Karaganow dann die Schlussfolgerung: "Es ist eine moralisch beängstigende Entscheidung – wir benutzen Gottes Waffe und begeben uns selbst in ein schweres spirituelles Dilemma. Aber wenn wir es nicht tun, wird nicht nur Russland untergehen, sondern wahrscheinlich auch die gesamte menschliche Zivilisation."

Wie würden wir reagieren, wenn Pakistan atomar – Gott bewahre! – Indien angreifen würde oder umgekehrt? Wir wären entsetzt, schockiert darüber, dass das nukleare Tabu gebrochen wurde. Anschließend würden wir den Opfern helfen und unsere eigene atomare Doktrin entsprechend anpassen. Tatsächlich ähnelt der Artikel von Karaganow einem Gedankengang des Ex-Präsidenten Dmitri Medwedew, geht jedoch ernsthaft tiefer. Er bewegt sich auch in der Logik eines Schlägers auf dem Schulhof: Als erster zuzuschlagen, um dadurch den Gegner in wütender Raserei zu besiegen. Das ist irgendwie beängstigend.

Wenn man sehr lange über etwas spricht, fängt man irgendwann an, eine Idee nicht als verrückt, sondern als durchaus akzeptabel wahrzunehmen. So erweitert man die Grenzen des Möglichen, zunächst im eigenen Kopf und dann in der Realität. Was also in den Köpfen derer vorgeht, die über "Gottes Waffe" schreiben – obwohl ich persönlich nicht sicher bin, ob Gott überhaupt eine Waffe hat –, ist schwer zu analysieren und vorherzusagen. Große chinesische Prosa vergleicht solche Gedanken mit dem "Traum eines abgetrennten Kopfes", dessen Gedanken sich in höchst autonomer Weise zusammenbrauen und fast keinem äußeren Verständnis unterliegen. Ich würde sagen, dass hier jemand versucht, Angst im Westen zu verbreiten, Angst als neue Doktrin. Wir sind die Furchtbaren!

Folgendes, um den Inhalt des Artikels von Karaganow zu vereinfachen: So heißt es darin, dass ein Atomkrieg "kleinen Ausmaßes" nicht so beängstigend sei. Und da wir nichts anderes haben, bedeutet das, dass wir keine andere Wahl hätten – wir müssen Westeuropa angreifen und dann "in ein paar Jahren hinter Chinas Rücken Stellung beziehen, so wie China jetzt hinter unserem steht, und Peking in seinem Streit mit den USA unterstützen". Aus irgendeinem Grund scheint Karaganow zu glauben, dass ein solches Ergebnis ein absoluter Segen und ein Zeichen des Fortschritts ist, obwohl man meinen könnte, dass eine Position als Rammbock und Satellit Chinas eher demütigend ist.

Übersetzt aus dem Englischen

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